Versuchsobjekt kind

Versuchsobjekt Kind
von Martin Lindner, Artikel aus der Süddeutschen Zeitung vom 23.Juni 2004

Verlässliche Daten über die Wirkung von Medikamenten für Kinder sind rar. Ärzte und Politiker
fordern nun mehr wissenschaftliche Studien an Minderjährigen. Kritiker befürchten dagegen, die
Kleinen könnten sinnlos unnötigen Belastungen ausgesetzt werden.
Böse Zungen sagen, dass man aus der Geschichte nicht lernt. Als vor vier Jahrzehnten Tausende
Säuglinge verstümmelt zur Welt kamen, weil Schwangere Contergan geschluckt hatten, saß der
Schrecken tief. In vielen Ländern brachte man deshalb strengere Arzneimittelgesetze auf den Weg.
Inzwischen werden Medikamente für Erwachsene sorgsam auf ihre Sicherheit geprüft.
Doch ausgerechnet bei Kindern gilt das nicht. Die Kleinsten aber tragen die größten Risiken. Denn
verlässliche Daten, wie Arzneien bei Kindern wirken, sind rar. Mitunter kennen Ärzte nicht einmal die
geeignete Dosis. „Manchmal fischen wir im Trüben“, bekennt Hannsjörg Seyberth, Professor für
Pädiatrie an der Marburger Uniklinik und Präsident der europäischen Gesellschaft der
Kinderpharmakologen (ESDP).
Während der ESDP-Konferenz am Wochenende in Marburg wurde das Problem erneut betont: In bis
zu 90 Prozent der Fälle ist die Arzneitherapie von Minderjährigen nicht gesichert. Oft setzen
Kinderärzte Mittel ein, die zwar bei Erwachsenen getestet sind, auf ihre Effekte bei Neugeborenen,
Kindern oder Jugendlichen jedoch nie untersucht wurden.
"Je kleiner und kränker, desto größer das Risiko". Doch kann man wirklich bei einer Pille, die dem
Vierzigjährigen nutzt, die Dosis verringern und sie dem Vierjährigen verpassen?
Mal ja, mal nein. „Es ist durchaus möglich, aus Erwachsenen-Studien Rückschlüsse zu ziehen“, sagt
Seyberth. „Eine Lungenentzündung verläuft bei Erwachsenen und Kindern ähnlich, es sind ja die
gleichen Erreger.“ Entsprechend ließen sich auch die gleichen Antibiotika verwenden.
Akzeptiert sind auch Regeln, anhand von Körpergewicht oder -oberfläche die Dosis zu berechnen.
Viele Arzneien, mit denen Kinderärzte langjährige Erfahrungen hätten, ließen sich ohne erhöhtes
Risiko anwenden, betont Seyberth.
„Doch gerade bei neueren Mitteln fehlen die Erfahrungen“, fügt er hinzu. Bereits die Behandlung von
Asthma oder Diabetes sei mitunter schwierig. Heikel aber werde die Therapie mit
Spezialmedikamenten, die bei Krebs, Nierentransplantationen oder Frühgeborenen notwendig sind. „Je
kleiner und kränker das Kind, desto größer das Risiko.“ Bei manchen Mitteln könnte die
Nebenwirkungsrate wohl doppelt so hoch liegen wie bei Erwachsenen, schätzt Seyberth.
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen
Denn Kinder sind, pharmakologisch gesehen, keine kleinen Erwachsenen. Viele Medikamente werden
bei Säuglingen langsamer aus dem Darm aufgenommen, die Nierenleistung ist geringer, der
Wassergehalt im Körper höher. Dadurch seien Dosisberechnungen schwierig, sagt der Kinderarzt
Gregory Kearns aus den USA (1). Hinzu komme, dass manche Arzneien bei Kindern Effekte haben,
die es bei Erwachsenen nicht gibt – und daher aus Studien auch nicht absehbar sind.
So behindern etwa so genannte COX-Hemmer, die bei Schmerzen verordnet werden, das Wachstum
der kindlichen Niere und führen manchmal zu Organschäden. Noch gravierender können die Folgen
einer Kortison-Langzeittherapie sein. Bis vor wenigen Jahren setzten Ärzte das Mittel auf
Neugeborenen-Intensivstationen ein, um beatmete Frühchen vor Lungenschäden zu bewahren.
Inzwischen ist klar, dass Kortison das Gehirn in seiner Entwicklung hemmen kann.
Schuld an der Misere, so monieren Kritiker, sei auch die Pharmaindustrie. Sie habe versäumt, ihre
Mittel bei Kindern zu testen. In vielen Fällen hätten Firmen nicht mal kindgerechte
Darreichungsformen entwickelt – etwa Sirup statt Tabletten. Der Grund, so argwöhnen Ärzte: Der
Markt ist zu klein.
Kein Markt, keine Investitionen!
„Wenn eine Firma ein Mittel gegen Brustkrebs entwickelt, betrifft das eine potenziell riesige Klientel“,
so Seyberth. Für ein Medikament gegen den Wilms-Tumor aber, einen seltenen Krebs der kindlichen
Niere, lohnten sich Studien kaum. „Die Pharmabranche ist ein hartes Geschäft. Man kann niemanden
zwingen, in unwirtschaftliche Bereiche zu investieren“, sagt Seyberth.
Unterdessen hat die Europäische Kommission einen weitreichenden Gesetzesvorschlag gemacht, der das Forschungsdefizit abbauen helfen soll und schon nächstes Jahr verabschiedet werden könnte. Wie in den USA, wo ähnliche Regelungen bereits 1997 ergingen, will man Unternehmen, die ihre Mittel auch bei Kindern testen, mit einer sechsmonatigen Verlängerung des Patentschutzes belohnen. Forscher wie Firmen applaudieren bereits. Doch der Schuss könnte nach hinten losgehen. Das zeigen zumindest manche Erfahrungen aus den USA. Dort wurden seit 1997 zwar tatsächlich Hunderte neue Studien mit Zehntausenden Kindern abgeschlossen. Doch bleibt oftmals unklar, ob die Studien wirklich sinnvoll waren – oder nur dem Profit der Unternehmen dienten. Viagra gegen Lungenhochdruck bei Kindern? Das Wall Street Journal hat vorgerechnet, dass Kinder-Studien oft nur einige Millionen Dollar kosten, den Pharmafirmen aber durch Patentschutzverlängerung Hunderte Millionen einbringen können. Beispielsweise hatte der US-Konzern Eli Lilly mit seinem Antidepressivum Prozac eine Kinder-Studie nachgeschoben und dadurch einen geschätzten Extragewinn von 700 Millionen Dollar erzielt. Ähnliches versucht die Firma Pfizer: Sie prüft, ob ihr Potenzmittel Viagra bei kleinen Kindern mit Lungen-Bluthochdruck hilfreich wäre. Medizinischen Fortschritt bringen solche Studien nicht unbedingt. So hat der Chicagoer Mediziner Justin Coffey gezeigt, dass es in den USA zwischen 1998 und 2001 zwar 70 Asthma-Studien mit Kindern gab. Weil sie mangelhaft geplant worden seien, hätten aber über 50 davon keine für die Kinderheilkunde verwertbaren Ergebnisse geliefert (2). Ethische Seite der Kinder-Forschung mehr berücksichtigen Genau das befürchten Kritiker: Kinder könnten sinnlos unnötigen Belastungen ausgesetzt werden, wenn munter drauflos geforscht wird. Diese Befürchtung wird durch Analysen des Göttinger Medizinethikers Christian Lenk bestätigt, der alle deutschen Ethikkommissionen an Universitäten und Ärztekammern um Stellungnahmen zu Forschungsszenarien gebeten hatte. Ergebnis: Von 29 Kommissionsvorsitzenden hielten es immerhin sechs für unproblematisch, bei Kindern mit Leukämie in einer Studie Knochenmarkpunktionen durchzuführen – selbst, wenn die schmerzhafte Prozedur nicht der Behandlung der Kinder, sondern der Wissenschaft diente (3). „Mich überrascht diese Freizügigkeit“, sagt Lenk. Die ethischen Probleme der Kinder-Forschung müssten stärker von Kommissionen berücksichtigt werden. Auch weil Eltern in vielen Fällen überfordert seien. „Wenn Eltern erfahren, dass ihr Baby einen Herzfehler hat, stehen sie häufig unter Schock und können das Für und Wider einer Studie gar nicht abgewogen durchdenken“, sagt Lenk. Erlaubnis aus Sorge um krankes Kind Mitunter stimmten sie der Untersuchung einfach zu, weil sie sich eine bessere Behandlung für ihr Kind erhofften. „In einer gut geplanten Studie werden Kinder in der Tat oft besser versorgt“, bekräftigt Seyberth. Doch auch er räumt ein, dass dem Arzt bei der Forschung mit Kindern eine besondere Schutzpflicht zukommt. Eine gute Daumenregel sei, dass ein Kind durch eine klinische Studie nicht stärker belastet werden sollte als durch eine Routineuntersuchung beim Kinderarzt, sagt Seyberth. „Wer in seinem Studienplan mehr fordert, der muss das sehr, sehr gut begründen.“ New England Journal of Medicine, Bd. 349, S. 1157, 2003 Journal of Medical Ethics, Bd. 30, S.85, 2004

Source: http://www.glutz-bc.de/Versuchsobjekt%20Kind.pdf

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